Bücher und Klischees

Schriftzug Eingang zum S-Bahnhof Wedding

Neulich war ich im Kino. Ick weeß, Gropiusstadt is woanders, aber … ick weeß ooch nich‘ warum … dit wollte einfach in meinen Kopp: Eine Buchhandlung im Wedding?

Das war vor 30 Jahren, naja, sagen wir’s freundlich: für’n Arsch. Aber es gab sie, die kleine Kiezbuchhandlung neben dem damals geschlossenen S-Bahnhof gegenüber der Feuerwache. Sie gehörte zu einer kleinen Buchhandelskette, mehrheitlich in Ost-Berlin ansässig. Ein privates Ding. Klein. Sehr klein. Die Verkaufsräume der sechs Filialen waren wohnzimmergroß. In jener kleinen Buchhandlung war ich die Azubine. Und ich wurde beklaut. Naja, Wedding eben. Aber das soll keine Geschichte über Klischees werden.

Die einzigen Kunden der kleinen Buchhandlung waren die Mitarbeiter eines großen Pharmakonzerns um die Ecke, die In der Mittagspause kamen. Sie kauften Geschenke für Geburtstage und bestellten Fachliteratur. In der Mittagszeit war immer etwas los, den Rest des Tages: tote Hose. Hätte es schon Smartphones gegeben, wären ich sicherlich eine dieser traurigen Angestellten gewesen, die völlig ungeniert hinter dem Verkaufstresen auf den Handybildschirm starren und gelangweilten den Feierabend herbeisehnen. Noch ein Blick auf die manikürten Kunstnägel. Top gepflegt. So wie meine Social-Media-Kanäle. Keine Klischees.

Damals gab es viel Zeit für andere Beschäftigungsmöglichkeiten. Rechnungen kopieren. Ablage. Bücherabstauben. Echt sexy. Schaufensterdekoration war ok. Ich gab mir Mühe und brachte sogar Material von zu Hause mit. Doch schnell stellte sich die Frage: Für wen eigentlich? Die Laufkundschaft? Manchmal polterten lautstark Kids in den kleinen Laden und fragten nach Luftballons und Bonbons. Irgendwie gingen die Tage rum. Im Wedding.

Eines Nachmittags öffnete sich die Tür und ein Junge kam herein. Vielleicht zehn Jahre alt, maximal zwölf. Ich dachte, na mal sehen, was das für eine Nummer wird. Er kam zielstrebig auf mich zu und baute sich vorm Kassentresen auf. Mir fiel sofort sein fester Blick auf. Und die große Goldrandbrille. What a nerd! Keine Klischees.

Little Mr. Spex guckte mich an und fragte: „Entschuldigen Sie, wo ist denn Ihre Computerliteraturabteilung?“ Hä? Doch ein total schlaues interessiertes womöglich hochbegabtes Kind. Jetzt mal schnell überlegt: Haben wir so etwas? Wie viele Bücher gibt es da? Und wie viele Buchstaben hat das Wort Computerliteraturabteilung eigentlich? Na? Sechsundzwanzig. Das war die Anzahl der Minuten, die wohl vergingen, bis ich zu einer Antwort fähig war. „Äh, da!“, mehr brachte ich nicht heraus und vergaß den Mund zu schließen. Computerliteraturabteilung. Hübsch.

Der Junge ging in die von mir so präzise beschriebene Richtung und hatte sein Urteil mit Sicherheit längst gefällt: Und die will Buchhändlerin sein? Naja, Wedding eben.

 

 

 

Foto: (c) montagmorgen.berlin

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